Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Bahn oder Bus, haben keine Fahrkarte, werden kontrolliert – und müssen nichts weiter tun als bei diesem Kontrolleur eine ganz normale Fahrkarte nachlösen. Keine Strafgebühr, keine Personalienfeststellung, keine Scherereien.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Bahn oder Bus, werden kontrolliert, haben eine Fahrkarte, zeigen die auch vor – und dürfen anschließend vom Kontrolleur für den Aufwand, kontrolliert zu werden, eine Bearbeitungsgebühr verlangen.

Das sind keine Szenen aus einem utopischen Roman, auch keine Einblicke ins Schlaraffenland, sondern das ist das ganz reale Gesundheitswesen. Der Fahrgast heißt Krankenhaus, der Kontrolleur Krankenkasse. Wenn ein Krankenhaus bei einer Krankenkasse überhöhte Abrechnungen einreicht und das bei einer Kontrolle auffällt, muss das Krankenhaus nichts weiter tun als die Rechnung korrigieren oder die zuviel berechnete Summe zurückzahlen. Wird es aber kontrolliert und es wird kein Fehler gefunden, darf es für das Kontrolliertwerden eine Bearbeitungsgebühr von 300 Euro berechnen.

Überhöhte Rechnungen fallen aber nicht immer auf. Nur zehn Prozent der Krankenhausfälle werden von den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung (MDK) pro Jahr geprüft, und dabei sind die Abrechnungen in 40 Prozent der Fälle fehlerhaft (Zahlen des MDS für 2009). »Auf der Grundlage der von den MDK durchgeführten Prüfungen ergibt sich im Jahr 2009 ein Rückforderungspotenzial für die Gesetzliche Krankenversicherung von mindestens einer Milliarde Euro«, schreibt der Bundes-MDK. So viel rechnen Krankenhäuser vermutlich zu viel ab – jedes Jahr.

Auch nach einem neuen Bericht des Bundesrechnungshofs »sieht das System für die Krankenhäuser keine Anreize für richtiges bzw. Sanktionen für falsches Abrechnen vor. Derzeit muss das fehlerhaft abrechnende Krankenhaus keine Sanktionen befürchten, sondern lediglich den überzahlten Betrag der Krankenkasse erstatten.« Auch der Bundesrechnungshof geht davon aus, dass die Krankenhäuser (diesmal im Jahr 2010) fast eine Milliarde Euro zuviel abgerechnet haben. Das sind bei insgesamt 50 Milliarden Euro, die die Kliniken gegenüber den Kassen jährlich abrechnen, knapp zwei Prozent.

Die Krankenhäuser sehen das naturgemäß völlig anders. »Von den Kliniken zugunsten der Patienten erbrachte Leistungen werden in nicht gerechtfertigter Weise gekürzt bzw. als Falschabrechnungen deklariert«, schreibt die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Das könnte man ihnen vielleicht glauben, wenn sie so behandelt würden wie der normale Fahrgast ohne Fahrkarte, eben mit einer Strafe. Solange aber die Kontrolleure bestraft werden statt der Schwarzfahrer, werden die Krankenhäuser sich am längeren Hebel fühlen.

Was Sie als Patient jetzt tun können
Kontrollieren Sie möglichst immer die Abrechnungen, wenn Sie können. Beim Arzt und im Krankenhaus. Privatversicherte erhalten ja ohnehin für jede Behandlung eine Rechnung, die sie selbst bezahlen und von ihrer Versicherung erstattet bekommen. Kontrollieren dürfen Sie aber auch als gesetzlich Versicherte. Paragraph 305 des fünften Sozialgesetzbuches erlaubt Ihnen, eine »Patientenquittung« zu verlangen: entweder bei Ihrer Krankenkasse für das vergangene Kalenderjahr (§ 305 Abs. 1) oder beim Arzt bzw. Krankenhaus direkt nach der Behandlung oder zumindest nach Ablauf des Abrechnungs-Vierteljahres (§ 305 Abs. 2). Auch wenn Ihnen das unangenehm sein sollte, etwa weil Sie befürchten, das Vertrauen zu Ihrem Arzt könnte darunter leiden – es ist Ihr gesetzlich verbrieftes Recht. Und Sie müssen auch nicht begründen, warum Sie einen Leistungsnachweis fordern. Er steht Ihnen einfach zu.

Was tun, wenn Ihnen etwas auffällt?
Zugegeben, es ist nicht leicht, eine Abrechnung zu prüfen. Ärzte rechnen nach einer komplizierten Gebührenordnung ab, die für Kassenpatienten Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) heißt und bei Zahnärzten Einheitlicher Bewertungsmaßstab für zahnärztliche Leistungen (BEMA). Krankenhäuser benutzen seit Jahren ein hochkomplexes System von Fallpauschalen aus 13.000 Diagnosen und doppelt so vielen Therapien. Die Kompliziertheit dieser Systeme wird von Ärzten und Krankenhäusern systematisch genutzt, um ihr Abrechnungsverhalten zu »optimieren«, das heißt möglichst viel Geld für möglichst wenig Leistung herauszuholen. (Auch wenn natürlich nicht alle und auch nicht alle gleichermaßen geldgierig sind – sobald Viele das tun, entsteht für die Anderen ein Sog, es ebenfalls zu tun, und dann wird es bald zum System.)

Sie als Patient und wir als Patientenberater sind da überfordert. Aber Sie können Ihrer Krankenkasse Hinweise geben. Und Ihren Ärzten deutlich machen, dass Sie aufmerksam sind – etwa indem Sie die Patientenquittung anfordern. Dann sehen die Akteure, dass jemand ihnen auf die Finger schaut.

Anders als durch Ihre und unsere Mitarbeit dürfte es nicht gelingen, irgendwann ein System zu bekommen, in dem notwendige Leistungen gut entlohnt, nicht notwendige Leistungen nicht erbracht und Rechnungen stets korrekt gestellt werden. Schaffen müssen dieses (noch utopisch wirkende) System die Politiker. Mitwirken können wir alle!